9.11.
Liebermann betrat die Intensivstation. Überall Apparate und Schläuche, Schaltpulte und Monitore, die die Überwachung und Lebenserhaltung seiner Patienten übernahmen. Er schaute sich verstohlen um. Doch er konnte ihn nirgends entdecken. Trotzdem spürte der Doktor seine Gegenwart. Wie würde er sich zu erkennen geben? Im Gewand des Todes oder in einer anderen Maske?
Als Liebermann sich über das Bett eines Patienten beugte, stand die Mittagssonne hoch am Himmel. Ihre Helligkeit verlieh dem Raum eine angenehme Atmosphäre.
„Sie suchen nach ihm, nicht wahr, Herr Doktor?“ „Von wem reden Sie?“ „Vom Tod. Er ist schon hier.“ „Wo ist er denn?“ „Er steht an meinen Füßen. Sehen Sie ihn denn nicht?“, flüsterte der Kranke. „Nun machen Sie nicht so ein ernstes Gesicht. Es ist nicht so schlimm, wie Sie vielleicht meinen. Das Einzige, was ich wirklich bedaure, sind die vielen Dinge in meinem Leben, die ich versäumt habe, weil ich sie auf morgen, übermorgen oder irgendwann einmal verschoben habe. Nun ist es zu spät dafür. Ich rate Ihnen, Doktor, gehen Sie sorgfältig mit jeder Minute um. Sie ist viel zu kostbar, um verschwendet zu werden.“
„Diesen Patienten kriegt er nicht“, beschloss Liebermann dank einer Eingebung, die ihn selbst überraschte. Laut sagte er: „Wenn Sie ein zweites Leben hätten, was würden Sie anders machen?“ „Damit es ein erfülltes Leben wird: Nie mehr behaupten, keine Zeit zu haben. Mich weniger um Kleinigkeiten sorgen. Bewahren, was mir geschenkt wurde. Wagen, was nach vorne weist.
„Klingt alles wunderbar“, sagte Liebermann. „Ich meine, wir sollten Letzteres gleich in Angriff nehmen. Was halten Sie davon, Ihr Bett so zu stellen, dass Sie entgegengesetzt liegen. Ihr Kopf sollte da sein, wo jetzt die Füße sind. Wäre das verrückt genug?“
„Ein kurioser Scherz, Doktor. Warum wollen Sie das tun?“ „Weil es das beste Heilmittel ist, das ich kenne.“