Niemandszeit

Niemandszeit – zwischen Ewigkeitssonntag und 1.Advent
Wir befinden uns sozusagen in einem leeren Raum zwischen den Kirchenjahreszeiten. Der Ewigkeitssonntag ist vorbei, und mit ihm der letzte der besinnlichen Feiertage, die das Ende des Kirchenjahres ausmachen.
Aber der erste Advent, der Beginn des neuen Kirchenjahres, ist noch nicht da, ist noch nicht angebrochen. Das Kirchenjahr kennt ja keinen besonderen letzten Tag, keinen Tag, der etwa mit Silvester vergleichbar wäre, wo exakt mit dem Überschreiten der Mitternacht ein neuer Abschnitt, ein neues Jahr anbricht. Zwischen diesen beiden Sonntagen liegen sechs Tage „Niemandsland“ oder besser vielleicht „Niemandszeit“, eine Zeit, die man stimmungsmäßig schlecht fassen kann, in der man sich stimmungsmäßig umorientieren muss.
Eben war noch Trauer angesagt, Abschied, Erinnerung und Gedenken an die Lieben, die man verloren hat. Schon überwunden geglaubte Empfindungen, schon aufgearbeitete Trauer, schon bewältigt geglaubte Gefühle wurden nochmal zurückgeholt. Schmerzlich für viele. Man blickte zurück, auf vergangene Zeiten jedenfalls. Man erinnerte sich vielleicht an Menschen, die nicht mehr da sind, an eigene Fehler, an eigene Schuld und eigene Unzulänglichkeiten. Viele verschiedene Empfindungen. Die Trauer über Menschen, die uns nun fehlen. Die Erleichterung, wenn man einen Menschen von langer Krankheit und Leiden erlöst weiß. Aber es bleiben Erinnerungen – – – an ungesagte Worte, ungetane Taten, ungeteilte Gedanken. Ein paar Tage voller Zweifel, unzufrieden, ohne wirkliche Orientierung. Eine dunkle, bedrückende Zeit. November.
Aber dann, am Mittwoch, gleichweit von den beiden Sonntagen entfernt – dreht sich die Perspektive. Da schauen wir nach vorn. Denn da passiert etwas Neues.
Etwas kommt auf uns zu in den nächsten Tagen. Es kommt aus dem Dunkeln; es kommt und wird deutlicher, heller, besser sichtbar, besser fühlbar.
Der erste Advent. Die erste Kerze.
Behutsam, ja fast vorsichtig fällt ein Lichtschein ins Dunkel. Holt mich heraus aus meinen trüben Gedanken. Etwas tut sich da, etwas kommt näher. Man erkennt es noch nicht, es ist noch verschwommen, undeutlich, aber es ist da. Es ist eine einzelne erste Kerze, die ein wenig flackert. Und dieses erste kleine Licht macht neugierig. Ich kann mich mitnehmen lassen, mich ihm anvertrauen. Ich kann darauf zugehen. Es gibt eine Richtung vor, zeigt mir einen Weg, gibt mir ein Ziel. Und mit jedem folgenden Sonntag wird es klarer, wird es heller, wird es wärmer.

Wie jedes Jahr zum ersten Advent hat es mir ein Lied besonders angetan: Der Kanon ,,Mache dich auf und werde Licht“. Mache dich auf und werde Licht, heißt es im Text, und weiter: Denn dein Licht kommt. Darin steckt eine doppelte Aussage, eine doppelte Aufforderung, und eine Verheißung, ein Versprechen. Mache dich auf, und werde Licht – das ruft uns zu: Setz dich in Bewegung. Komm heraus aus deinen dunklen Gedanken. Lass diese aufglimmende Helligkeit in dich hinein, lass sie wirken in dir. Nimm es auf, dieses zarte Licht, diese Wärme, und sieh ihr dabei zu, erlebe – spüre, wie sie in dir wächst. Vielleicht braucht es ja nur diesen ersten kleinen Funken, um etwas in dir zu bewegen, eine erste Flamme, die sich ausbreitet in deinem Inneren. Wie ein warmer Strom, wie eine leuchtende Flüssigkeit, die nach und nach jeden Winkel in dir erreicht und füllt. Und ihr Licht, ihre Helligkeit, ihre Wärme kann dir die Kraft geben, das Dunkle hinter dir zu lassen, wieder nach vorne zu schauen, deine Angelegenheiten wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Dein Licht kommt – so ist die Verheißung in der letzten Zeile des Liedes. Was das für ein Licht ist, habe ich in einem anderen Lied entdeckt, das ebenfalls diese Stimmung an der Schwelle zwischen Trauer und Advent zum Thema hat:
Es heißt: „In das Warten dieser Welt“
In das Warten dieser Welt fällt ein strahlend helles Licht.
Weit entfernt von dem Gedränge klingt die Stimme die da spricht:

Sehet auf der Retter kommt. Wachet auf und seid bereit,
denn der Herr erlöst sein Volk wunderbar zu seiner Zeit.

In die Trauer greift Gott ein, er ist nahe, dem der weint.
Dass auch in der tiefsten Not uns das Licht der Hoffnung scheint.

Neues Leben zieht dort ein, wo die Herzen müde sind.
Gottes Geist weht durch das Land wie ein frischer Morgenwind.

Sehet auf der Retter kommt. Wachet auf und seid bereit,
denn der Herr erlöst sein Volk wunderbar zu seiner Zeit.

Mache dich auf und werde Licht, denn dein Licht kommt.
Mache dich auf – das heißt, warte nicht, bis etwas mit dir passiert – mache dich auf, das heißt, selber aktiv werden. Wieder aufrecht gehen. Und dadurch, dass du dich wieder in Bewegung setzt, kannst du selbst ein Licht werden, etwas von deiner Energie, von deiner Wärme, von deiner Kraft abgeben an andere, ihre Dunkelheiten erhellen, ihren Weg beleuchten.
So wie Hilde Domin das in einem Gedicht gesagt hat:
„Ich gehe vorüber – aber ich lasse vielleicht
den kleinen Ton meiner Stimme, mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruß der Bäume im Abend
auf einem Stückchen Papier

Und im Vorbeigehn, ganz absichtslos,
zünde ich die eine oder andere Laterne an
in den Herzen am Wegrand.“

Keinem von uns ist Gott fern.

Ich wünsche uns einen besinnlichen Start in die Zeit, die vor uns liegt. Versuchen wir, die Kurve zu kriegen, raus aus der dunklen Zeit, rein in die Adventszeit. Die grauen Tage sind vorbei, es wird wieder hell – mit Weihnachten als nächsten strahlenden Höhepunkt, mit den Maßstäben des Kirchenjahres gemessen.
Lassen Sie sich nicht anstecken von dem Rummel, der dort draußen jetzt losbricht, mit Macht, nachdem er bis letzten Sonntag noch verhaltener sein musste.

Wir wissen: Es geht auch anders.

In diesem Sinne: Eine gute Zeit!

Ihr Volker Stark