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Der 9. Tag – „Der Sturz Babels“

An diesem Abend gingen noch viele der Jüngerinnen und Jünger in den Tempel, denn sie wollen die Nachtwache des Schawuot-Festes halten, Tikun Chazot. In dieser Nacht wird die Thora und die Kommentare dazu studiert und gelesen; denn an Schawuot denkt man daran, dass Mose am Berg Sinai die 10 Gebote von Gott persönlich bekommen habt. Das Volk aber, das es satt hatte, auf Mose zu warten, baute sich ein goldenes Apis-Stierbild, betete es an und tanzte darum. Als Mose vom Berg kam, zerschmiss er vor lauter Wut und Frust die Gebotstafeln, und es wurden an diesem Tag 3000 der Abtrünnigen dem Tode preisgegeben. So musste Gott ein zweites Mal die Gebote geben, um sein Volk quasi aufzuwecken. Darum wird in dieser Nacht des Schawuot die Thora besonders gründlich studiert.

Zur Morgendämmerung treffen sich die neuen Freunde, um gemeinsam das Schma Israel, das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Dann gibt es zum Frühstück einen frischen Käsekuchen. Denn alle Mahlzeiten an diesem Fest bestehen aus Milch- und Honiggerichten. Die Frauen haben das Haus mit Blumen und Laub geschmückt, um damit um eine reichte Ernte zu bitten.
Nach dieser Nacht des Studiums ist der Tag frei. Er wird mit feiern, singen und tanzen verbracht.

Am frühen Nachmittag kommen alle wieder im Tempel zusammen. Auch der Jüngerkreis Jesu geht an diesem Festtag in den Tempel. Die Neuen sind gespannt auf das, was der Jüngerkreis heute weiter erzählen wird.

„Schlangen, Gifte und Dämonen – ist das alles, was Jesus euch und uns verheißen hat?“ – „Nein, das ist es nicht. Aber es war das Spannendste. Es gibt noch zwei weitere Ereignisse, die Jesus uns angekündigt hat.“ – „Erzählt doch schon!“ drängeln einige.

„Allen, die zum Glauben gekommen ist, wird es möglich sein, Kranken die Hände aufzulegen und gesund zu machen.“ – „Wie, wir werden Kranke heilen können? Wie die Ärzte, wie die Heiler? Das muss doch viele Jahre lang studiert werden!“ – „Ja, manche müssen viele Jahre lang studieren, aber manche auch nicht. Glaubst du, dass Jesus in der Lage war zu heilen?“ – „Ja, ich glaube es.“ – „Glaubst du, dass Jesus uns alle Vollmacht übergeben hat?“ – „Ja, ich glaube es.“ – „Glaubst du, dass dem, der glaubt, alle Dinge möglich sind?“ – „Ja, ich glaube es.“ – „Dann SIND dir alle Dinge möglich. Dann kannst du in Gottes und Jesu Namen heilen. Nicht in deinem eigenen Namen; denn du bist nur ein sterblicher Mensch. Aber in Gottes Namen ist es möglich.“

„Was passiert denn ganz genau, wenn wir die Hände auflegen?“ – „Probiere es aus.“ Und Nathanael probiert es aus. Er legt Philippus die Hände auf und betet. Er weiß, Philippus hat immer wieder die Schmerzen in den Schultern. Er geht inzwischen ziemlich gekrümmt, das Aufrichten fällt ihm trotz des jungen Alters sehr schwer. Nathanael schließt die Augen, versenkt sich ganz ins Gebet und in die Konzentration auf Gott und Philippus. Nach einiger Zeit fängt Philippus an zu lächeln. Dann richtet er sich auf und biegt die Schultern zurück. „Danke“, flüstert er ganz leise Nathanael zu. Dieser scheint aus einem Traum, einer Trance aufzuwachen. Er schaut Philippus an: „Was sagst du? Danke wofür?“ – „Dafür, dass du mir die Schmerzen genommen hast. Ich kann mich wieder aufrichten.“ – „Wie kommt das?“ – „Ich weiß es nicht. Ich habe eine Wärme gespürt und ein Prickeln. Beides fing direkt unter deinen Händen in meinem Kopf an und wanderte immer weiter hinunter, den Hinterkopf entlang, den Hals, und dann in die Schultern. Diese Wärme, dieses Prickeln löste den ganzen Druck der letzten Jahre, und es war mir, als fiele alles von mir ab. Ich habe es in Gedanken immer weiter hinunter und in den Boden fallen lassen. So war es weg. Hoffentlich bleibt es weg. Mit Gottes Hilfe bleibe ich gesund. Ich glaube es.“

„So oft haben wir gehört“, unterbricht Petrus die Stille, „dass Jesus den Geheilten sagte: ‚Dein Glaube hat dir geholfen.‘ Vertraue darauf, Philippus, vertraut beide darauf. Euer Glaube hat euch beiden geholfen. Auch dir, Nathanael, weil du jetzt weißt, dass Jesu Verheißung Recht behalten hat.“

„Die Sprache verbindet uns mit Gott. Nur wir Menschen sind in der Lage, zu sprechen und auch andere Sprachen zu lernen und mit Fremden zu kommunizieren. Das kann kein Tier, nur wir. Wir sind Gottes Ebenbilder. Wir haben Teil an seiner Schöpferkraft. Wie Gott allein mit Worten das Weltall, die Gestirne und alles Leben erschaffen hat, so können auch wir erschaffen. Wenn du Böses denkst und sprichst, dann wird Böses kommen. Wenn du Gutes denkst und sagst, dann wird Gutes kommen. Es ist deine, es ist unsere Macht, so etwas zu erschaffen. Glaubt ihr das?“ Nach einem kurzen Zögern sieht Petrus, wie Viele anfangen zu nicken.

„Gott hat, weil die Menschen damals Böses dachten und sagten, die Sprache der Menschen verwirrt. So wurde aus einer großen Macht viele einzelne, ja vereinzelte Menschen – und ihre Macht schrumpfte. Das Böse war gebannt.“ – „Ist das Böse in dieser Welt gebannt? Ich denke, das ist es nicht.“ – „Aber es ist so weit in seiner Macht beschnitten, dass es nicht Überhand nehmen kann. Gutes und Böses sind in dieser unserer Welt im relativen Gleichgewicht. Mal scheint das Eine zu überwiegen, mal das Andere.“ – „In der Beziehung hast du Recht. Und meist ist es so: Wenn Menschen mit EINER Stimme sprechen, werden sie zur Übermacht und erreichen, dass die Menschen mit einer anderen Meinung mundtot gemacht werden. Es geht um den Mainstream: Wer eine andere Einstellung, eine andere Überzeugung hat, der wird als Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Im Endeffekt kommt das ‚Sprechen der Menschen mit einer Stimme‘ einer Gleichschaltung nah.“

„Das ist hart formuliert. Und doch ist etwas Wahres an dem, was du sagst. Denn es wäre viel besser, den positiven Effekt des Sprechens mit einer Stimme zu forcieren: nämlich, das Gute auf dieser Welt zu fördern, so dass alle Menschen in Freiheit und Fülle leben können. Hat das Negative und das Böse die Macht, dann wird das Gute immer unterliegen.“ – „Was also wird sein, wenn die Menschen mit ‚neuen Sprachen‘ sprechen, wie Jesus es ihnen verheißen hat? Wird es Babel ähnlich sein?“

Im Moment haben die Jünger, ja alle 120 Gläubigen, darauf keine Antwort. Was wird sein? Was wird werden? Alles ist offen, alles ist im Fluss …