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Der 7. Tag – „Da fehlt doch wer!“

Von Tag zu Tag werden es mehr Menschen, die sich von der Botschaft von Jesus Christus und der zugewandten, freundlichen Art der Jüngerinnen und Jünger angezogen fühlen. Es ist der Moment gekommen, wo sie sich nicht mehr im Vorhof des Tempels treffen können; stattdessen treffen sie sich auf der Dachterrasse des Wohnhauses.

Heute sind doch tatsächlich 120 Menschen zusammengekommen! Und das in so wenigen Tagen, in denen die Jünger Jesu Lebensaufgabe weiterführen. Im kleineren, vertrauten Kreis haben sie angesprochen, was Petrus als Wortführer jetzt mit allen bespricht:

„Liebe Brüder und Schwestern“, fängt er an zu reden, „wir haben euch von Judas erzählt. Wenn heute jemand zum ersten Mal unter uns ist, will ich kurz erläutern, was wir meinen:
Judas war einer aus dem engsten Kreis, dem 12er-Kreis der Jünger um Jesus. Er war, wie wir anderen auch, von Anfang an dabei. Wir haben ihm vertraut, Jesus hat ihm vertraut, er ging voll und ganz in dem Dienst auf, in den unser Meister uns berufen hat.
Und dann – es ist heute auf den Tag sieben Wochen her – wurde Judas zum Verräter. Er verkaufte unseren Meister für 30 Silberstücke. Was für ein Judaslohn! Die Summe, mit der man auch einen Esel kaufen kann.“ – „WAS?! Das ist doch unmöglich“, ruft Nathan und schaut entsetzt in die Runde. Nathan ist seit wenigen Tagen regelmäßig in dieser Runde und erfährt heute zum ersten Mal etwas über Judas. – „Wir können es bis heute auch nicht wirklich verstehen, warum er das gemacht hat.“ – „Judas war anders, als wir“, wirft Salome ein. „Er wollte, dass Jesus mehr Macht für sich in Anspruch nimmt, nicht so zaghaft ist beim Aufrichten des Reiches Gottes.“ – „Ja, er wollte immer alles, und das sofort. Es ging ihm nicht schnell genug“, stimmt ihr Johanna zu. Maria, die Mutter Jesu, nickt unmerklich; denn er Schmerz über den Verlust ihres Sohnes ist zu groß; und doch stimmt sie den Frauen zu, die die andere Seite des Judas gut erkannt haben. „Rede weiter, Petrus“, bittet sie schnell.

„Wenn ich den in die Finger bekomme“, ruft jemand. – „Moment, lieber Freund“, schreitet Petrus sofort ein, „zum Einen möchten wir keine Drohungen oder andere negativen Emotionen in unserer Runde haben …“ Der aufbrausende junge Mann senkt schnell sein errötendes Gesicht. Er weiß sich zu Recht getadelt; denn in dieser Runde hat er bisher nur gute, positive Schwingungen erlebt. Er nimmt sich vor, seine negativen Gefühle mehr unter Kontrolle zu bringen. – „… zum Anderen hat Judas sich selbst gerichtet. Er wollte tatsächlich nicht, dass Jesus getötet wird. Er wollte seinen Verrat rückgängig machen, doch es war zu spät. Mit seiner Schuld konnte und wollte er nicht weiter leben. So hat er sich selber erhängt.“

„Die 12 verbindet auch das Himmlische und das Irdische“, wirft Andreas ein. „Denn die 12 setzt sich zusammen aus 3 mal 4, das sind auch beides heilige Zahlen.“ – „Die 4 verstehe ich ja noch: die 4 Himmelsrichtungen, die 4 Jahreszeiten, die 4 Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. Aber die 3?“ – „Die 3 ist für uns auch zur heiligen Zahl geworden. Sie ist nicht nur in der Natur zu finden in der Aufteilung der Erde in Luft, Meer und Land – und damit von Gott geschaffen. Sondern sie ist auch unser neues Glaubenssymbol für Gott selbst: Er, der himmlische Vater; Jesus, der göttliche Sohn; und der von Jesus verheißene Tröster, der sehr bald kommen wird.“

Nun fährt Petrus fort: „Nun sind wir nur noch 11 Männer im engen Jüngerkreis. Judas fehlt. In den Psalmen steht die Verheißung: ‚… seine Stellung soll ein Anderer bekommen.‘ Deshalb haben wir beschlossen, dass wir einen Apostel nachberufen. Es soll einer der Männer sein, der von Anfang an dabei war, als Jesus sich von Johannes im Jordan taufen ließ, und der bis zum Schluss unter dem Kreuz Jesu dabei war.“ – „Warum kann es keine Frau sein?“ hört man eine Stimme rufen.

„Ganz einfache Erklärung. Obwohl Jesus die Frauen als gleichberechtigt angesehen hat, und wir es in seiner Nachfolge natürlich auch so sehen (nicht ohne Grund sind die Frauen die ersten Zeugen seiner Auferstehung geworden, wir Männer stehen da in der zweiten Reihe!), gilt in unserer Gesellschaft und religiösen Tradition, dass die Männer das höhere Ansehen haben. Nur deshalb, einzig und allein, wollen wir in Abstimmung mit unseren lieben weiblichen Jüngerinnen einen Mann nachwählen. Wir hoffen alle, dass unsere Gesellschaft und die Religion einmal so weit sein wird, dass es eine Frauenquote geben wird und auf Frauen genauso gehört und geachtet wird, wie auf Männer. Hoffentlich wird es keine 2000 Jahre dauern!“ Als Petrus diesen Zeitraum nennt, fangen alle an zu lachen; denn niemand kann sich vorstellen, dass die Menschheit so lange so engstirnig sein wird.

Und so werden zwei Männer vorgestellt: Joseph Barsabbas, der auch Justus genannt wird, und Matthias. Joseph, der zu den 70 Jüngern gehört, die Jesus selber ausgesandt hat, um das Evangelium zu verkündigen, ist ein Verwandter Jesu. Seine Gerechtigkeit wird von allen Menschen gerühmt. Matthias ist jüdischer Schriftgelehrter und sofort von Jesu Auslegung der Thora begeistert gewesen. Sein Name bedeutet „Geschenk Gottes“. – Beide Männer sind als Nachfolger des Judas bestens geeignet. Da vorher im kleinen Kreis besprochen wurde, dass es keine Sympathieabstimmung über das Nachfolgeamt geben kann, haben sie beschlossen, das Los entscheiden zu lassen.

Das Gottes-Los kennen sie alle; denn in ihrer Geschichte wurde es oftmals bei wichtigen Entscheidungen verwendet. Die Lossteine Urim und Thummim befinden sich zwar bei den Priestern im Tempel, dennoch ist ein Auslosen möglich. Petrus spricht dazu ein Gebet:
„Herr, du kennst jeden Menschen ganz genau. Zeig uns, welcher von diesen beiden nach deinem Willen den Dienst und das Apostelamt von Judas übernehmen soll. Denn Judas hat seinen Auftrag nicht erfüllt. Er ist jetzt an dem Platz, der ihm zukommt.“

Alle schweigen; denn nun wird das Los geworfen. Beide Männer sind so gut geeignet, beide sind sympathisch und charismatisch. Dann fällt das Los auf Matthias. Joseph Barsabbas nimmt Matthias in seine Arme und wünscht ihm alles Gute. Dann legt er seine Hände auf Matthias‘ Kopf und segnet ihn.

Alle elf Jünger schließen sich ihm an. So gesegnet vervollständigt er ab jetzt den Kreis der 12 Apostel. Nun fehlt niemand mehr an der Vollzahl, an der kraftvollen Vollkommenheit.
Fröhlich feiernd geht der Abend mit der neuen Anhängerschaft Jesu spät zu Ende. Sie freuen sich schon auf den morgigen Tag.