Müde bin ich, geh‘ zur Ruh,
schließe meine Äuglein zu.
Vater, lass die Augen Dein
über meinem Bette sein.
Kennst Du dieses Kindergebet? Ich habe es früher ganz oft gebetet. Als Kind habe ich abends vor meinem Bett gekniet und zu Gott gebetet, auch „Müde bin ich, geh zur Ruh“. Ich fühlte mich dann immer geborgen, weil Gott auch dann auf mich aufpasst, wenn ich selber schlafe.
Vielen anderen geht und ging es anders mit einem solchen Bild: Gott sieht mich immer, egal was ich mache und wo ich bin. So ein Mist, ich kann nie mal alleine und unbeobachtet sein. Big brother is watching you – is watching me! Was für eine fürchterliche Vorstellung!
Diese Vorstellung von einer Dauerbeobachtung – wenn man es so verstehen will – finde ich auch schrecklich. Ich möchte auch bei niemandem unter Dauerbeobachtung stehen; denn Dauerbeobachtung bedeutet ebenso Dauerkritik und Dauerstress. Aus Menschensicht.
Mein Vater hat unter Tage gearbeitet. Einer seiner Arbeiter, ein Türke, hat ihm einmal auf die erstaunte Frage meines Vaters, wieso er Schweinefleisch esse, geantwortet: „Hier unten kann Gott mich nicht sehen, da darf ich auch Schwein essen.“ – Eine witzige und sehr naive Gottesvorstellung. Aus Menschensicht. Und ich denke, die Idee jenes Mannes unter Tage ist kein Einzelfall.
Ja, wir Menschen sind schon manchmal sehr merkwürdige Wesen in unserem Denken und unseren Vorstellungen. Wie gut, dass meine Eltern es damals geschafft haben, mich von einer solchen Dauerbeobachtungs-Vorstellung durch Gott fern zu halten!
Eine zweite merkwürdige Sache:
Die sozialen Medien gehören zu unserem Alltag. Sie sind untrennbar mit unserem Leben verbunden, und alles wird in der Öffentlichkeit gepostet: die Wohnung, der Urlaub, die Kleidung, die Kinder, die Weihnachtsbäume, dann auch sehr persönliche, vertraute und vertrauliche Situationen. Da ist es anscheinend nicht so schlimm, dass auch mal Millionen von Menschen einen beobachten. Das wird sogar forciert; denn je mehr Follower jemand hat, desto angesehener ist er angeblich.
Ist das nicht eine verkehrte Welt? Öffentlich unter Dauerbeobachtung stehen zu wollen, aber sich vor Gott verstecken? Diese Logik ist nicht meine.
Müde bin ich, geh‘ zur Ruh,
schließe meine Äuglein zu.
Vater, lass die Augen Dein
über meinem Bette sein.
Zum Umfallen müde, und Augen, die ihr zufielen, hatte sicherlich auch Hagar, von der der Ausspruch unserer Jahreslosung stammt.
Wer war Hagar? Da gehen wir etwa 4000 Jahre zurück in die Anfänge der Geschichtsschreibung der Bibel in die Abrahamgeschichten.
Abraham und Sara wurden einfach nicht Eltern, obwohl Gott es ihnen verheißen hatte: Nachkommen – so viele wie die Sandkörner auf der Erde und die Sterne am Himmel. Und nun waren sie schon uralt und hatten immer noch kein Kind. Da kam Sara auf die Idee der Leihmutterschaft; denn sie hatte eine Leibmagd. Und wenn die von ihrem eigenen Ehemann Abraham ein Kind bekäme, das sie auf ihrem, Saras, Schoß gebären würde, dann würde es laut Recht und Gesetz ihr selber gehören. So hatte Sara es sich überlegt. Und Abraham machte mit.
Als Hagar weiß, dass sie schwanger ist, wird sie ihrer Herrin Sara gegenüber extrem hochmütig. Das kann Sara nicht auf sich sitzen lassen, und sie will, dass Abraham Hagar bestraft. Der hält sich allerdings aus allem heraus und gibt die Verantwortung an Sara zurück, sie solle mit Hagar machen, was sie will. Und weil sie von jetzt an von ihrer Herrin schikaniert wird, läuft Hagar davon.
Hagar flieht in die Wüste. Sie weiß nicht weiter. Sie sitzt an einem Brunnen und ist ratlos, wohin sie nun gehen soll. Sie meint, ihr Leben sei zu Ende. Eine entflohene Sklavin, Fremde im Land, und dann noch ledig und schwanger. Das IST ihr Ende, nach menschlicher Überzeugung.
Doch nach Gottes Überzeugung ist das erst der Anfang ihrer Geschichte. Denn er schickt einen Engel zu Hagar, der sie fragt: „Woher kommst du? Wohin gehst du?“ Das sind Fragen für einen Zeitpunkt der Entscheidung, wenn man auf einer Schwelle steht, einen neuen Raum betritt. An der Schwelle zum neuen Jahr fragt man sich: „Was war? Was wird?“ und entscheidet sich für einen neuen Weg, oder auch für die alten Pfade. Oder für eine Mischung aus beidem.
Hagar kann sich nicht entscheiden, sie weiß als Antwort nur: „Ich bin weggelaufen.“ Mehr weiß sie nicht. Sie kann keine eigenen Entscheidungen treffen. Und so entscheidet der Engel, der Bote Gottes, für sie: „Geh zurück. Ordne dich unter.“ Und er gibt ihr noch eine große Verheißung für die Zukunft mit.
Jetzt ist noch nicht der richtige Zeitpunkt da, der Kairos, die richtige und günstige Gelegenheit. Noch muss sie warten. Sollte sie warten. Und dann … dann wird sich nach Gottes Willen alles zum Guten wenden. Noch nicht – aber bald. Hab Geduld! Man kann manches eben nicht erzwingen.
Hagar lässt sich darauf ein. Sie geht zurück. Und sie erlebt, dass ihr Sohn (der den Namen Ismael bekommt, d.h. Gott hat gehört) mächtig und einflussreich wird.
Was allerdings für sie das Wichtigste bei diesem Erlebnis ist, dass da jemand ist, der sie sieht. Der ihre Sorgen und Ängste sieht, ihre Verzweiflung, ihre Entscheidungslosigkeit, ihre Unmündigkeit. Sie ist eine Sklavin, eine Rechtlose, eine Fremde. Und sie wird trotzdem gesehen. Darüber ist sie überglücklich. Diesen Moment, diese Kehre in ihrem Leben, hält sie fest, indem sie ihn benennt. Sie gibt dem Ort, an dem sie gesehen, erkannt und anerkannt wurde, einen Namen: Dies ist der Brunnen des lebendigen Gottes, der mich sieht. Denn sie erkennt: Egal, wo sie hinläuft und sich verstecken will, also in all ihrer Ausweg- und Entscheidungslosigkeit, ist EINER da, der ihr nachgeht, sie sieht, mit ihr redet und ihr hilft. Es ist der Gott, der sie sieht. „Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein/über meinem Leben sein.“
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Nicht irgendeine ferne und abgehobene Idee, nicht irgendein Bild oder eine tote Statue, nicht ein Windhauch oder eine vorbeifliegende Wolke. Sondern ein Gott – DER Gott –, der präsent und lebendig ist, und der uns ein Gegenüber ist. Dieser Gott sieht unsere Nöte und Ängste, dieser Gott sieht auch die Kleinigkeiten in unserem Leben, und er richtet nicht über unsere Nickeligkeiten. Diesem Gott sind wir wichtig. Er ist da. Denn er sieht jeden und jede Einzelne von uns. Und er hilft.
Geh in dieses Jahr und durch dieses Jahr in der Gewissheit,
dass Gott Dich sieht, dass er da ist und Dir hilft.
Wir wünschen Dir ein gesegnetes, glückliches und erfolgreiches
Neues Jahr 2023.
Deine Querdenker-Christen.