9. Dezember 2021

„Die Macht der Rituale“

Yuval Lapide schreibt dazu:

„Eine vordergründig gesehen unspektakuläre Handlung … Trotz ihrer vordergründigen Einfachheit ist diese Handlung im biblisch-jüdischen Orient eine heilige Handlung voller Symbolkraft. … [In dem zeremoniellen Verlauf dieser letzten Mahlgemeinschaft soll] das Materielle mit dem Spirituellen verknüpft werden … Der loslassende Stammesvater ist im Begriff, seinem ältesten Nachkommen das kostbarste spirituelle Gut seines Lebens zu überreichen – die Kraft des göttlichen Segens … Der Sohn … weiß sich seinerseits angespornt und herausgefordert, seine beste materielle Leistung als große Liebesgabe dem Vater zu überreichen. …

Hier begegnen sich zwei aus dem Innersten kommende Liebeshandlungen im orientalischen Leben jüdischer Nomaden: Die profane Alltagsaktivität eines feierlichen Mahles berührt die sakrale und transzendente Dimension des göttlichen Segens. …

Wir leben in einem weitgehend entmenschlichten Zeitalter, in welchem die zwischenmenschlichen authentischen Begegnungen immer mehr hinter Technisierung und Anonymisierung verschwinden. Der gottgeschaffene Mensch …. braucht berührende und tiefgreifende Rituale voll bewährter überlieferter Symbolkraft.

Sie sind das Geheimnis echten Menschseins und der Garant geistiger Vitalität im Dienst an sich selbst und im Dienst an der Gesellschaft.“

Als Yuval Lapide diese Auslegung schrieb, wusste die Welt noch nichts von Corona und den Folgen für die Menschlichkeit und Freiheit. Umso passender und aufrüttelnder sind seine Worte heute! Wir brauchen die Verbindung von Materiellem UND Spiritualität, wir brauchen Rituale. Stattdessen schotten sich die Kirchen ab und lassen nur noch Gottesdienste und Veranstaltungen unter 2G-Bedingungen zu. Wo bleibt die Menschlichkeit? Wo bleibt der Dienst an den Menschen und der Gesellschaft? Alles geht in dieser unseligen Zeit verloren.

Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf! Echtes Menschsein geht vielleicht bei vielen, sehr vielen Menschen verloren, aber nicht bei allen. Und so vertraue ich darauf, dass sich die authentischen Begegnungen umso tiefer anfühlen, und Leute davon berichten, andere anstecken und sich das Geheimnis des echten Menschseins wieder ausbreiten wird!

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?

O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.

(EG 7,4)