15. Dezember 2021

„Der Sieg der Empathie“

Yuval Lapide schreibt dazu:

“…Der mächtige Mann Josef, der vor vielen Jahren von seinen bösartigen Brüdern an die ägyptischen Machthaber verkauft wurde, steht nun vor seinen ängstlichen Brüdern als großer Regent und will ihnen eine schmerzhafte, aber heilsame Lektion bezüglich ihrer damaligen Gehässigkeit und Unmenschlichkeit erteilen. Der weise Josef plant, seinen jüngsten Bruder Benjamin in ägyptischem Gewahrsam festzuhalten, um zugleich seine erschütterten Brüder herauszufordern, sich für dessen Befreiung und Heimholung von ganzem Herzen einzusetzen. Josef will in dieser brisanten Situation gezielt jenen Charakterzug in seinen Brüdern hervorlocken, an dessen Ermangelung sie vor vielen Jahren während ihres arglistigen Vorgehens gegen ihn jämmerlich versagten: Menschlichkeit und Empathie.

Juda, der starke Vertreter der übrigen Brüder, erkennt den Ernst der Lage und stürzt sich in eine tief bewegende Rede seinem mächtigen Bruder Josef gegenüber …

Juda weiß, dass sein verletzter Bruder sich danach sehnt, aus seinem Mund Worte der Anteilnahme des Verständnisses und Einfühlungsvermögens zu hören. Jene Worte, die er vor genau zweiundzwanzig Jahren aus dem Mund des damals hartherzigen Bruders brennend gern gehört hätte. Die Bibel zeigt uns, dass es nie zu spät ist, tiefe, ungeheilte Wunden durch reuevolle Worte und Gesten nachträglich zu heilen. Der gereifte Juda wählt in seiner Rede genau die Worte, die von menschlich-familiärer Verbundenheit zeugen. Er überwindet beherzt seine eigenen engen Schranken von Apathie und Hybris zugunsten tiefer Einfühlung in die innere Welt seines vormals gewaltsam ausgegrenzten jüngeren Bruders und ringt bei jedem Wort um dessen Reintegration in die familiäre Gemeinschaft.”

Es ist der Glaube an die göttliche Macht der heilenden Liebe, diese tiefe Kraft, die in uns wirkt, wenn wir es zulassen – der Glaube, dass Gott es wirken kann, dass getanes Unrecht repariert werden kann: durch uns und unser verändertes, offenes und liebendes Herz, durch unsere Worte und Gesten, durch unsere Überwindung einer inneren Grenze. Gott wirkt es, dass Unrecht wieder gut gemacht werden kann.

Das Volk, das noch im Finstern wandelt – bald sieht es Licht, ein großes Licht.

Heb in den Himmel dein Gesicht und steh und lausche, weil Gott handelt.

Die Liebe geht nicht mehr verloren. Das Unrecht stürzt in vollem Lauf.

Der Tod ist tot. Das Volk jauchzt auf und ruft: „Uns ist ein Kind geboren!“

(EG 20, 1+4)